Irgendwann gehörte sie einfach zu unserem Alltag dazu. War in unser Leben eingezogen und geblieben. Wir hatten es gar nicht bemerkt. Es gab keine Diagnose, keinen Schalter, der plötzlich angeknipst wurde. Sie war einfach da. Die Demenz.
Ich erzähle Euch von Berta. Bertas Geschichte ist auch meine Geschichte. Wir leben unter einem Dach, teilen den Alltag, sind eine Familie.
Vor einigen Jahren begann Berta, Dinge zu verlegen, immer wieder. Nichts Ungewöhnliches, kann ja jedem mal passieren. Und sie tauchten ja immer wieder auf. Irgendwann stellten wir fest, dass es einen Ort gibt, der verlässlich all die verlorenen Gegenstände wieder zutage förderte. Schlüssel, Brille, Blutzuckermessgerät – Kühlschranktür auf, da waren sie.
Überhaupt, die Küche – Berta liebte es zu kochen, zauberte an jedem Wochenende ein leckeres Mittagessen auf den Tisch. Beklagte sich nie, sie machte das gern. Besonders schön war es an Weihnachten, wir liebten ihren krossen Gänsebraten mit saftigem Rotkohl, Grünkohl aus dem Garten und Klößen. Ganz klassisch. Ein Rezept brauchte sie dafür nicht. Das hatte sie im Kopf. Bis zu jenem Vorweihnachtstag vor einigen Jahren, als sie plötzlich in der Küche stand und nicht mehr weiterwusste. Wenn ich je einen konkreten Moment benennen sollte, in dem die Demenz für uns sichtbar wurde, dann war es wohl dieser.
Menschen mit Demenz ziehen sich zurück, finden sich nicht mehr zurecht im gewohnten Leben, fühlen sich oft missverstanden. Auch Berta fiel es mehr und mehr schwer, den Alltag zu meistern. Also halfen wir ihr dabei. Das war nicht immer einfach, denn sie wollte es ja gern selbst schaffen. Heute weiß ich nicht, ob Berta weiß, wer ich bin oder wie ich heiße. Aber das ist mir gleichgültig. Wichtig ist einzig und allein, dass sie weiß, ich meine es gut mit ihr. Wenn ich bei ihr bin, sehe ich, dass sie mich als eine Person erkennt, die zu ihr gehört, die für sie sorgt, für sie da ist, ihr Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Das ist es, was zählt.
Menschen mit Demenz sind keine kleinen Kinder, auch wenn sie von der Gesellschaft gelegentlich so behandelt werden. Sie sind gestandene Persönlichkeiten und haben im Laufe ihres Lebens vieles erlebt. Sie wollen sich einbringen, möchten weiter Sinnvolles tun. Auch Berta hatte ein erfülltes, arbeitsreiches Leben, war erfolgreich in einem anspruchsvollen Job, hat sich nach der Arbeit um Mann und Kind gekümmert, das war alles ganz selbstverständlich. Jetzt haben Berta und ich einmal in der Woche Plätt-Tag – dann stelle ich zwei Bügelbretter in ihrem Wohnzimmer auf, hole die gesammelte Plättwasche heraus und wir machen uns an die Arbeit. Berta ist glücklich, helfen zu können, ich sehe es ihr an. Eifrig legt sie die Handtücher zusammen, während ich unsere Hemden und Blusen bügle. Ich tue das nicht für Berta. Ich tue das für mich. Gemeinsam macht es viel mehr Spaß und die leidige Hausarbeit geht mir locker von der Hand.
Es gibt so viele Momente, für die ich dankbar bin. Gemeinsames Schunkeln, wenn der Lieblingsschlager läuft. Ihr Blick, wenn wir „noch schnell“ ein Foto machen möchten, bevor wir mit dem Eierlikör anstoßen (nein, sie möchte jetzt nicht länger warten). Ein dankbares Lächeln, eine Umarmung. Ein „Ich bin doch grad erst ins Bett gegangen“ morgens beim Wecken.
Ich liebe es, morgens mit ihr aufzustehen, sie anzuziehen, mit ihr zu frühstücken. Berta lässt keine Hektik zu. Bei ihr bin ich tiefenentspannt. Alles braucht seine Zeit. Und das fühlt sich richtig an. Eine wertvolle Erkenntnis für mich. Berta tut mir gut.
Berta ist eine von rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die in Deutschland leben. Unter dem Motto „Demenz – die Welt steht Kopf“ finden in dieser Woche zahlreiche Veranstaltungen zur Woche der Demenz und dem Welt-Alzheimertag am 21. September statt. Eine gute Gelegenheit, sich über die Krankheit, ihre Folgen und den Umgang mit ihr zu informieren.